Jessas, Maria

Eine Herbergsuche 2024

Es war eine bitterkalte Nacht, als Maria an die Türen sämtlicher Coworking Spaces in der Stadt klopfte und flehentlich um Einlass bat. Sie war hochschwanger – mit einer Geschäftsidee – und würde bald gebären. Ihr Kopf war am Platzen, ihre Waden waren dick von Wassereinlagerungen.

Ihr Zustand war offensichtlich, doch niemand ließ sich erbarmen. Der eine meinte, der Business-Plan wäre nicht schlüssig genug, die andere bemängelte den fehlenden USP. Ein Weiterer sagte, sie passe hier einfach nicht rein in seinen Coworking Space. Dabei hatte sie sich extra einen kleinen Schnurrbart wachsen lassen und trug eine Brille mit großen Gläsern und einen weiten Second Hand Mantel.

Verzweifelt ging sie über den großen Platz, an dem sich viele Menschen versammelt hatten. Eine Demonstration echter Menschlichkeit, hier würde sie bestimmt eine Bleibe finden zum Gebären. Die Leute aßen Gebratenes, sie wärmten ihre Hände an heißen Tassen und sprachen eine seltsame, zungenschlagende Sprache. Plötzlich kam ein Mann auf sie zu und meinte, er wäre aus Syrien und sei vor einigen Jahren hier gestrandet. Er fühle mit ihr, sagte er, kramte in seinem Rucksack und drückte ihr eine Flasche Olivenöl in die kalte Hand. Maria schöpfte Hoffnung.

Am Ende des Platzes ging Maria durch ein großes, finsteres Tor. Sie war bereit, eine weitere Nacht in einem Hinterhof kauernd in der Kälte zu verbringen. Sie begann, mit dem Öl ihre pochenden Schläfen zu massieren. Im Hof roch es nach Tannen. Maria raffte sich auf, erklomm die steinernen Stufen und stand alsbald vor einem großen, vergitterten Fenster, das hell erleuchtet war. Drinnen saß eine Frau mit langem dunklem, welligem Haar über ihrem Laptop gebeugt. Zu ihren Füßen spielten zwei junge Hunde. Daneben ein verschwitzter Mann, in der einen Hand einen Akkuschrauber und in der anderen noch einen

Maria fasste sich ein Herz und klopfte an die Scheibe. Die Frau stand auf, ging zur Tür, öffnete diese und meinte: „Unser Büro hat schon geschlossen, kommen Sie bitte morgen früh wieder.“. Da fiel ihr weicher Blick auf Marias schwangeren Kopf, der kurz vorm Platzen war und rot vor Kälte.

„Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen? Ich habe gerade Tee zugestellt“, fragte die Frau und Maria klagte der Fremden ihr Leid. „Na so was“, sagte sie, „zufällig habe ich noch etwas frei. Das ist ein Freihaus, wissen Sie. Sie können sich gerne einen Platz aussuchen.“.

Sie bat Maria herein, zeigte ihr die Teekanne und die Kaffeemaschine und noch viel mehr. Die Küche war gut bestückt, die Toilette sauber, sogar eine Dusche gab es hier. „Aber bitte nicht vergessen, die Kaffees und Getränke in die Stricherlliste einzutragen“, warf sie ein.

Maria wähnte sich im Paradies. Endlich, endlich hatte sie den Ort gefunden, an dem sie ihre Geschäftsidee zur Welt bringen konnte. In einer ruhigen Ecke fand sie einen leeren Schreibtisch. Die beiden Hunde leckten zur Begrüßung ihre klammen Hände warm.

„Wissen Sie schon, was es wird?“, fragte die Frau und Maria antwortete: „Ja, ein KMU. Ich bin ehrlich gesagt ein wenig ängstlich. Es ist mein erstes Baby.“. „Und wo ist der Vater des Kindes, wenn ich fragen darf?“, so die Frau. Maria antwortete zögerlich: „Als er von meiner Schwangerschaft erfahren hat, ist er nach Indien aufgebrochen in ein Yoga-Retreat. Aber er hat mir versprochen, in 18 Jahren, wenn das Kind groß ist, zurück zu kommen und sich um uns zu kümmern.“

„Na dann: Einfach wohlfühlen und erobern!“, sagte die Frau freundlich und stellte noch einen kleinen Teller mit einem halben Schokocroissant auf den Tisch, das vom Frühstück übrig geblieben war. Der Raum war hoch, warm und hell.

Und siehe da, in dieser Nacht gebar Maria ihr Kindlein. Sie saß dabei ganz ruhig an einem der Schreibtische, hatte die kleine Lampe angemacht, ein Bier aus der Küche zur Hälfte getrunken, ihre schweren Beine auf die Tischplatte gelegt, den Laptop eingeschalten, als es plötzlich nur so rausflutschte aus ihr. Es war noch ganz wackelig auf den Beinen, konnte noch nicht selbstständig laufen, aber es roch nach warm und nach Zukunft.

Maria fühlte sich unendlich erleichtert. Sie empfand große Zärtlichkeit für das kleine Wesen, das aus ihrem Kopf geschlüpft war. Nun tat dieser auch nicht mehr so weh. Sie trank ihr Bier aus, dachte noch ein wenig über einen Namen nach, da KMU nicht wirklich zu diesem süßen Kindlein passte. Und bald fiel sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Am nächsten Morgen wurde sie von hellen Stimmen geweckt. „Tee ist aufgestellt!“. „Ich hab Kuchen mit von gestern!“. „Was kochen wir heute zu Mittag? Pasta?“ „Nein lieber Gemüseeintopf!“. „Ich will wieder mal Wüstel!“. „Also ich hol’ mir was vom Inder.“. Maria warf noch einen mütterlichen Blick auf ihr Baby, horchte, ob es auch atmete und erhob sich. Die Küche war voller Menschen, die fröhlich durcheinander redeten. Sie alle strahlten.

Sie alle waren einst wie Maria in einer kalten Nacht in diesem Freihaus gelandet. Und sie alle hatten ihre Kinderleins hier zur Welt gebracht. Diese waren zum Teil wirklich proper geworden, gesund und stark, einige hatten auch schon zu laufen begonnen. Die meisten Mütter und Väter waren alleinerziehend, aber hier, in diesem Freihaus war keiner mehr allein – sie halfen einander, wo es nur ging. Und klärten gemeinsam so existenzielle Fragen wie die Wahl des Mittagessens.

Maria war glücklich und schnaufte. „Also von mir aus können wir gerne Pasta kochen! Ich hab’ eine Flasche Olivenöl dabei.“


Ähnliche Einträge

0 Kommentar(e)